Wenn ich als Ingenieur mit meinem Auto überhole, denk ich an alte Gewissheiten
Ich fahre ein Auto, dessen Innenleben mir in vielem vertraut ist. Das lege ich auch in meiner Freizeit nicht ab, diese Begeisterung für eine Technik, mit der ich arbeite. In ihr stecken auch jahrelange Erfahrung und viel Arbeit, die früher einmal einen einfachen Ruf hatte: Made in Germany. Das bedeutete für mich immer zweierlei: Deutsche Ingenieurkunst begegnet deutschem Gewerkschafts- bzw. Betriebsratsengagement. Über Jahrzehnte ging die Wertschätzung der Technik mit der Wertschätzung der Arbeit einher – bei Arbeitgebern, bei den OEM und bei ihren Kunden. Aber das war vor der Zeit, als noch nicht allein der Cashflow die Firmenpolitik in einer globalisierten Welt bestimmte.
Beim Überholen denk ich daran. Ich fahre ein Auto, in dem ein „Line Keeping Assistent (LKA)“ bzw. ein „Spurhalteassistent“ von Bosch eingebaut ist, an dessen Evaluation ich als Ingenieur beteiligt war. Aus der Beschreibung für Endkunden wird schon deutlich, wie viel Ingenieurkunst es für den LKA brauchte: „Über eine Videokamera erkennt das System die Fahrspurmarkierungen vor dem Fahrzeug und vergleicht diese mit der Position des Fahrzeugs in der Spur. Unterschreitet das Auto einen definierten Mindestabstand zur Fahrbahnbegrenzung, greift der Spurhalteassistent ein: Bei Fahrzeugen mit elektrischer Servolenkung lenkt der Spurhalteassistent sanft aber spürbar gegen, um das Fahrzeug in der Spur zu halten. Bei Fahrzeugen ohne elektrische Servolenkung erfolgt das Gegenlenken über das gezielte Abbremsen einzelner Räder durch das elektronische Stabilitäts-Programm (ESP®).“ Wenn ich nun überhole und auf der Überholspur bleibe oder auch wieder auf die rechte Spur zurückfahre, nehme ich in der Spur dann voller Vertrauen meine Hände vom Lenkrad. Ich verlasse mich auf ein System, dem ich vertraue, weil ich weiß, wer daran unter welchen Bedingungen gearbeitet hat. In China werden LKA zu einem Bruchteil der Kosten in Deutschland produziert. Das liegt nicht nur daran, dass China das europäische Patentrecht nicht anerkennt. Es liegt auch daran, dass Arbeit dort billiger und schneller ist. Beim derzeitigen Preiskampf der Autohersteller und Zulieferer ist es eine Frage einer kurzen Zeitspanne, bis sich die Billiglösungen durchsetzen. Und als Ingenieur macht mich das unruhig, denn ich weiß, was Fahrsicherheit bei der Entwicklung und Produktion für eine Bedeutung hat und wieviel Zeit es braucht, dem gerecht zu werden. Ich werde nicht mehr lange meine Hände vom Lenkrad nehmen.