JAN FRANKE

Tarifvertrag

als starres Gerüst für agilen Wandel

Beim Technologieentwickler IAV ist der Wandel vom Entwicklungsdienstleister für die Automobilindustrie hin zum Tech Solution Provider für die Mobilität der Zukunft in vollem Gange. Möglich ist das durch einen „Wandel als Disruption“, also durch eine Art kreative Zerstörung alt hergebrachter Rollen und Funktionen. Hier übernehmen Betriebsrat und Geschäftsführung gemeinsam Verantwortung für Strategie und praktische Umsetzung: Qualifizierung & Transformation@IAV.

Inneneinsichten von und mit dem Betriebsrat Jan Franke

Bei IAV zeigt sich wie unter einem Vergrößerungsglas nicht nur ein Wandel der Industriearbeit und ihrer damit einhergehenden stetig neuen Qualifizierungsbedarfe, sondern es zeigt sich auch, wie sich die Rolle und Funktion von Betriebsrät:innen und Vertrauensleuten sowie die Gestaltung gesetzlich festgelegter Maßnahmen der Mitbestimmung wandeln. Lag früher die Zielstellung darin, für etablierte Produktionsverfahren der Automobilindustrie gute Arbeit bei fairem Lohn und reduzierter Arbeitszeit durchzusetzen, so sind in den letzten Jahren die persönlichen Transformationsherausforderungen in der Arbeits- und Lebenswelt von Arbeitnehmer:innen immer mehr ins Zentrum gerückt. Und: Auch Arbeitgeber haben in den letzten Jahren erfahren, dass eine Personalplanung, die auf eine Führung von oben setzt (top down), ihre Zukunftsfähigkeit verliert. Oder mit den Worten von Betriebsrat Jan: „Transformation von oben geht nicht.“

Diese Entwicklung hat insbesondere bei der Aushandlung von Tarifverträgen zu einem Rollenwechsel von Betriebsrät:innen sowie einem teilweisen Funktionswechsel ihrer Mitbestimmungsinstrumente und -routinen geführt. Das „Gift des Co-Managements“, das Mitbestimmung letztlich zu unterlaufen sucht, hat sich in Betrieben wie IAV gewandelt zu einem Kompetenzzuwachs der Betriebsrät:innen. „Wir werden aus gutem Grund in die Transformationsprozesse heute mit reingenommen über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus“, sagt Jan. Die Strategie Qualifizierung & Transformation@IAV zeigt, wie Betriebsrät:innen erfolgreich dafür gestritten haben, bei der nachhaltigen Personalplanung nicht nur mitzubestimmen, sondern auch mitzugestalten. Diese Agilität, die IAV einen Wandel zum Tech Provider ermöglichen soll, wird durch das starre Gerüst des Tarifvertrages sichergestellt. Der Arbeitsalltag von Jan zeigt aber auch, dass das eine agile Kommunikation erfordert, die sowohl die Kolleg:innen als auch neue Vertreter:innen der Geschäftsführung immer wieder ins Boot holt. „Mit 77 Betriebsrät:innen und einem Wechsel in der Geschäftsführung sind wir hier wie ein Ameisenhaufen. Da musst Du immer wieder reden, reden, reden.“ Bei IAV wird einander täglich Transformation erzählt.

Disruptiver Wandel 1: Vom Entwicklungsdienstleister zum Tech-Provider

Jahrzehntelang haben Automobilhersteller (OEM), deren Zulieferer und viele Entwicklungsdienstleister (EDL) erfolgreich zusammengearbeitet rund um den Antrieb mit Verbrennungsmotoren (Diesel und Otto). Dabei wurden Werkstoffe und Fertigung – befeuert durch die Digitalisierung und Automatisierung – immer weiter differenziert. Das hat viele Arbeitsplätze und neue Berufsbilder im so genannten MINT-Bereich geschaffen. Die Branche konnte diese neuen Kompetenzen sozusagen in der Komfortzone stabiler Nachfrage und stabiler Rahmenbedingungen wie verlässlichen Lieferketten entwickeln. Mit dem Klimawandel, der Debatte um CO2-Ausstoß und dem Skandal um manipulierte Diesel-Fahrzeuge in den USA hat sich die Branche in wenigen Jahren radikal verändert. „Die Branche hat eine massive Disruption erlebt“, sagt Jan. Von E-Mobilität über Infotainment bis zum autonomen Fahren reicht das Spektrum der realistischen wie vermeintlichen Lösungsansätze. Egal wie das ausgeht, eins steht fest: Zulieferer müssen sich mit ihrem Produktportfolio an den sich verändernden Markt anpassen. Und: Für EDL wird es enger auf dem Markt und der Transformationsdruck nimmt stetig zu.

„Bei IAV lief es bislang immer so ab: Unsere Kunden haben Probleme, wir entwickeln technische Lösung dafür und verkaufen sie ihnen. Heute dagegen haben unsere Kunden Probleme, für die es erstmal gilt, Technologien und die damit verbundenen Kompetenzen zu entwickeln und aufzubauen. Daraus ist die Idealvorstellung des „Tech Solution Provider“ geworden.“ So fasst Jan die Disruption und ihre Konsequenz bei IAV zusammen. Das Besondere: Bei der Problemanalyse und der Entwicklung strategischer Antworten darauf war der Betriebsrat seit 2018 beteiligt und ist es bis heute – täglich, wie Jan betont. Das ist bei einem Unternehmen mit 7.600 Mitarbeitenden an 23 Standorten und einem Umsatz von über 860 Millionen eine komplexe Herausforderung.

Abb. 1 Grundidee: Portfolioanalyse als strategische Basis

Eine klassische betriebswirtschaftliche Portfolioanalyse (s. Abb. 1) hat allen Beteiligten deutlich gemacht, dass es einen Positionswechsel braucht – für das Unternehmen, aber damit eben auch für seine Mitarbeitenden. Mit dem „Sonnenuntergang“ des Verbrennermotors ist auch ein Rückgang von entsprechender Hardware- und Softwareentwicklung einhergegangen. Für einen Tech Solution Provider dagegen schien 2018 die Sonne aufzugehen und damit auch für neue Berufsbilder mit Software- und Daten-Expertise (s. Abb.2).

Abb. 2 Eine Strategie, die auf Qualifizierung setzt

„Das IAV-Weltbild ist 2018 ein anderes geworden. Das war mit einem Strategieprozess verbunden. Wir brauchten ein System für Qualifizierung“, erzählt Jan.

Disruptiver Wandel 2: hin zum Funktionsmodell kompetenzbasierter Personalplanung

Am Anfang des Transformationsprozesses bei IAV nahm der disruptive Wandel teils chaotische Züge an: Zu den massiven Herausforderungen des Klimawandels und den damit verbundenen Veränderungen internationaler und nationaler Gesetze und Abkommen sowie dem rapiden technologischen Wandel in der Antriebstechnik traten mit Corona und massiven Lieferengpässen stetig neue hinzu. (s. Abb 3).

Abb. 3 Disruptiver Wandel: Vom Reagieren zum Gestalten

Nach der ersten Transformation, bei der die Unternehmensführung schnell und ohne eine transformierte Gesamtstrategie top-down reagieren musste nach dem Motto „weg von …“, brauchte es eine zukunftsfähige Transformation 2.0: „hin zu“. (s. Abb. 4)

Abb. 4 Strategie für ein Qualifizierungssystem – offen für alle

„Fit for future“ bedeutete aber auch: Es brauchte eine neue Haltung im Unternehmen. „Wir wussten, dass wir in 5 Jahren viele Leute qualifizieren müssen. Aber das geht nicht mit Personalentscheidungen von oben. So nimmst Du die Leute nicht mit. Sondern die Kolleg:innen müssen sich selbst dazu entscheiden – ohne diese sonst üblichen, vermeintlich gut gemeinten Schubser“, erzählt Jan. Gefragt war ein Modell kompetenzbasierter Personalplanung.

Transformation geht – zumal in Großunternehmen – mit Sorgen vor Arbeitsplatzverlust, aber auch mit Ängsten vor Veränderungen am Arbeitsplatz bzw. im Berufsbild einher. Viele haben das Gefühl, ihre persönlichen Erfahrungen und Kompetenzen nichtmehr einbringen zu können und schutzlos von vorne anfangen zu müssen. Dafür brauchte es eine neue Idee. Die Antwort, zu der IAV durch das Engagement des Betriebsrats gefunden hat: „Mitmachunternehmen“ IAV. So sollten die Kolleg:innen eingeladen und überzeugt werden, agil zu werden. Für diese Beweglichkeit brauchte es einen für alle festen und stabilen Rahmen: einen Tarifvertrag, der ein verlässliches System der Qualifizierung für die Transformation 2.0 festschreibt. In der Präambel wird dieser Geist deutlich:

„Dieser Mantel- und Entgelttarifvertrag hat das Ziel IAV in dem grundlegenden Wandel in Richtung neuer Technologien, Geschäftsfelder & Märkte zu unterstützen und dabei Qualifizierung und gute Arbeitsbedingungen sicher zu stellen. Dies heißt insbesondere:

  • das Unternehmen wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltig auszurichten;
  • die Arbeitgeberattraktivität zu fördern, z.B. durch mehr Zeitsouveränität und
  • die Beschäftigten einzuladen, ihre Ideen aktiv einzubringen (Mitmachunternehmen).“

Personalplanung paritätisch steuern und lenken

Jan zählt zum IAV-Urgestein in Berlin – ein Kfz-Mechaniker, der sich mit Autos auskennt und Betriebsrat kann, ein Ingenieur, der sich auf technische Lösungen ebenso versteht wie auf solche der Personalplanung. Jan kennt die Höhenflüge und Zukunftsängste der Branche wie die seines Unternehmens seit Jahrzehnten. Er hat viele Erfahrungen damit, dass Unternehmensführungen sich zum einen schnell verändern, bzw. anpassen wollen (nichts wie weg vom Verbrenner …), zum anderen ihre Unternehmen sich aber strukturell nur langsam wandeln. Es brauchte also bei IAV einen Tarifvertrag „als Anker, der sich nicht wegwischen lassen kann“, wie es Jan mit seinem überzeugenden Bildbruch ausdrückt. Die Kunst besteht und bestand in dem Widerspruch, ein nachhaltiges System zu etablieren, das die Leute hält, damit sie sich bewegen können.

Der erste Schritt für ein Qualifizierungssystem des Großunternehmens lag in einer Formel, die zeitliche Sicherheit für Qualifizierungsmaßnahmen schafft. Die Grundidee: 36+2 – also 2 Stunden für Qualifizierung, was angesichts der Größe des Unternehmens etwa ein Potential von einer halben Million Stunden bedeutet.

In § 13 des Tarifvertrages heißt es zu Personalplanung und Qualifizierung:

  1. „Für jedes Geschäftsjahr wird ein Gesamt-Qualifizierungszielbudget („36+2″) gebildet, welches rechnerisch dem Wert von zwei Stunden pro Woche pro Mitarbeiter entspricht (…)
  2. Ein unmittelbarer, individueller Anspruch auf Qualifizierung ergibt sich aus dem Gesamtqualifizierungszielbudget nicht (…)
  3. Das Qualifizierungszielbudget deckt die Aufwände für alle internen und externen Weiterbildungsmaßnahmen…Die zu berücksichtigenden Kosten umfassen die vergütete Arbeitszeit der an den Maßnahmen teilnehmenden Mitarbeiter (Qualifizierungskosten).
  4. Zur strategischen Steuerung der Qualifizierungsmaßnahmen nach Maßgabe der Unternehmensstrategie sowie auf der Basis der jährlichen Personalplanung wird ein von den Tarifparteien paritätisch besetzter Lenkungsausschuss eingesetzt (…) Vorrangiges Ziel dieses Ausschusses ist es, Beschäftigte gezielt auf Zukunftsthemen zu qualifizieren (…)
  5. Ein von den Betriebsparteien paritätisch von Vertretern der Arbeitnehmer und des Arbeitgebers besetzter Steuerkreis, steuert die operative Umsetzung der Qualifizierungsmaßnahmen (…)“

Der Clou: Planung und Gestaltung werden paritätisch organisiert durch eine Gremienstruktur, die Strategie und operative Umsetzung verzahnt. (s. Abb. 5)

Abb. 5 Eine Gremienstruktur für strategische Steuerung und operative Umsetzung

Damit war eine Struktur geschaffen, die nur dann mit Leben gefüllt werden konnte, wenn im Detail Qualifizierung und Funktion dynamisch zusammengedacht wurden.

Weiterbildungspläne: Entwicklungspfade in einer Qualifizierungsmatrix

Dass „Tech Provider“ ein abstraktes Ideal bleibt, wenn es sich nicht für jeden Mitarbeitenden in täglichen Arbeits-, Aus- und Weiterbildungsroutinen umsetzt – diese Einsicht drückt sich in dem Modell aus, das eine Qualifikationsmatrix mit konkreten Entwicklungspfaden für zukunftsfähige Funktionsrollen verbindet. (s. Abb. 6) Mitarbeitende sehen so, in welchen Funktionsrollen sie sich mit welchem Aufwand qualifizieren können. Welche Rolle dabei die persönliche Beratung und Ermutigung von Betriebsrät:innen wie Jan spielt, zeigt im Folgenden die Transformationsgeschichte, die der Kfz-Mechaniker Patrick erzählt, der heute nach seiner Qualifizierung als Data Analyst arbeitet.

Abb. 6 Ein Unternehmen entwirft sich Funktion für Funktion neu

Der Vorbildcharakter des Modells für Transformation durch Qualifizierung wird deutlich, wenn man sich anhand einer konkreten Funktionsrolle ansieht, wie im Qualifizierungssystem differenziert wird zwischen Aufgaben, Ausbildung, professionellen und menschlichen Kompetenzen in Bezug auf zugehörige Stellenprofile und verwandte Rollen – etwa am Beispiel eines Software Engineer. (s. Abb. 7)

Abb. 7 Was Kolleg:innen können und können werden: kompetenzbasierte Personalplanung

Sind die Entwicklungspfade auch sehr unterschiedlich, so sind die Etappen doch für alle neuen Berufsbilder und entsprechenden Funktionsrollen gleich: Grundbaustein, Praktikum, Aufbaubaustein. (s. Abb. 8)

Abb. 8 Weiterbildung bei IAV: ein Dreischritt

Das Beispiel Funktionsentwickler gibt einen Eindruck davon, dass professionelle Kompetenzen mit so genannten Soft Skills einhergehen. Es zeigt, dass es um einen Wandel geht, der professionelle und persönliche Kompetenzen berücksichtigt. (s. Abb. 9)

Abb. 9 Curriculum für beruflichen und persönlichen Wandel

Ein Weg vom Kfz-Mechaniker zum Data Analyst

Die Bedeutung der Transformation@IAV und welche wichtige Rolle der Betriebsrat dabei einnimmt, erzählt Patrick mit Verve. Er begann seine berufliche Laufbahn mit einer klassischen Ausbildung als Kfz-Mechaniker und ist seit 1998 bei IAV. Er war zunächst als Mechaniker angestellt. In der Firma durchlebte er nahezu alle Schritte – war im Palettenbau, hat Prüfstandsmotoren aufgebaut, am Prüfstand gearbeitet, war beim OEM und hat Bauteile für Prototypen angefertigt und dabei immer viel mit Ingenieur:innen zusammengearbeitet. Doch die waren quasi über Nacht weg und es rollten immer weniger Autos über das Laufband. Die Zukunft bei IAV wurde für Patrick und für seine Kolleg:innen ungewiss. Ohne Perspektive und mit einer Bewerbung für einen anderen Arbeitgeber in der Tasche, hat er Jan getroffen, der ihm kurzerhand empfahl, sich bei einem Kollegen für eine Qualifizierung zu melden.

Fortbildungen waren Patrick nicht unbekannt, schließlich haben sich Fahrzeuge und Technologien schon immer stark weiterentwickelt und er musste in der Werkstatt wissen, wie man mit den Neuerungen arbeitet. Dennoch war er unsicher, ob er die Ausbildung und Lehrgänge schaffen würde. Und was dann? Gibt es danach überhaupt eine Beschäftigung für ihn im Unternehmen? Es brauchte so manches Gespräch, um ihm die Ängste zu nehmen. Aus den Sorgen ist eine Begeisterung für den neuen Beruf geworden, der an seinem alten anschließt. Denn: Ein Data Analyst, der sich von der Pike auf mit Autos auskennt, liest dessen Daten anders. Nach drei Lehrgängen und einem Praktikum ist Patrick nun als Data Analyst fest bei IAV angestellt. „Doch ohne Betriebsrat wäre ich nicht dahin gekommen. Für mich sind Betriebsräte Helden“, sagt Patrick. Den ganzen Weg (s. Abb. 10) mit seinen Höhen und Herausforderungen könnt ihr hier anhören.

Abb. 10 Ein Plan, den Patrick mit Leben gefüllt hat

Agilität aushandeln und erzählen

Nun ist es längst 2024. Ist jetzt IAV der gewandelte Tech Provider, das Mitmachunternehmen, in dem allen Mitarbeitenden neue Entwicklungspfade offenstehen? Um diese Frage konstruktiv zu verneinen (noch nicht …) und immer wieder, Tag für Tag Kolleg:innen diese Wege zu eröffnen und sie trotz personellen Wechseln in der Arbeitsdirektion und dem Top-Management immer wieder zu erstreiten, engagieren sich die Betriebsrät:innen bei IAV.

Nunmehr geht es darum, die Agilität im Tarifvertrag festzuschreiben – wieder so einer dieser erstaunlichen Widersprüche der Transformation. Wie schafft Jan es, diese Dynamik immer wieder zu erhalten und zu beleben? Eines seiner Rezepte: „Ich gehe durch jede Tür, die offen ist“. Transformation will erzählt und weitererzählt sein.