TURGUT ÖZTÜRK

WIR ZULIEFERER

ZAHLEN

OFT MIT ALLEM

Seit 25 Jahren arbeite ich im saarländischen Sankt Ingbert in einem mittelständischen Zulieferbetrieb der Automobilindustrie. Angefangen habe ich als Maschineneinrichter, heute bin ich dort als Schichtführer tätig. Letztes Jahr habe ich mich als Betriebsrat zur Wahl gestellt und bin auch gewählt worden. Ein Grund für meinen Eintritt in den Betriebsrat lag darin, dass ich „hinter die Kulissen schauen“ und herausfinden will, ob ich das ganze Geschehen nachvollziehen kann oder eben auch nicht. Und ich kann sagen, dass ich das Geschehen in unserem Betrieb und unserer Branche nichtmehr wirklich nachvollziehen kann. Denn von uns Zulieferern werden nicht 100 % verlangt, sondern 200 %. Und dafür „zahlen“ wir Jahr für Jahr mehr – vor allem mit unserer Gesundheit. Das muss sich ändern. Das müssen wir gemeinsam ändern. Das wird aber nur gehen, wenn die Solidarität wieder mehr Anerkennung in der Firma, aber auch in der IG Metall findet. Bei jeder Tarifrunde fällt es mir auf, wie wenig der harte Preiskampf zwischen OEM und Zulieferbetrieben berücksichtigt wird. Am Ende stehen da Tarifabschlüsse, die mit unserer Arbeits- und Firmenrealität wenig zu tun haben. Da ist Solidarität verloren gegangen, über die Jahre immer mehr. Es fühlt sich an wie ein Zwei-Klassensystem: Die größeren Betriebe, vor allem die Autoindustrien, stehen im Vordergrund und die kleinen werden vernachlässigt. Ich möchte hier nun zwei Geschichten darüber erzählen, wie ich Zusammenhalt und Solidarität erlebt habe. Es sind auch zwei Geschichten über den Zusammenhalt von Unternehmensleitung und Belegschaft. Dieser Zusammenhalt scheint in dem ehemaligen Familienbetrieb immer weniger möglich. Er geht verloren, wenn die Solidarität nicht mehr Anerkennung findet.

Im April 1998 habe ich mich in Sankt Ingbert als Maschineneinrichter vorgestellt. Nach einer herzlichen Begrüßung wurde ich durch den Betrieb geführt und meinen zukünftigen Kolleginnen und Kollegen vorgestellt. Zurück im Personalbüro ging es dann zunächst um meine beruflichen Erfahrungen. Dass ich aus einem ganz anderen Betrieb kam, schien kein Problem zu sein, denn viele arbeiteten und arbeiten bis heute hier, die aus ganz anderen Berufen und Arbeitsstellen gekommen sind. Die weitaus wichtigere Frage war: Konnte und wollte ich mit meinen neuen Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten? Also wurde ich nun noch einmal allein durch den Betrieb geschickt. Und ja, ich konnte mir das vorstellen. Ich mochte die Leute. Offen waren sie und aufgeschlossen. Ich war damals 23 Jahre alt, verheiratet und seit drei Jahren Vater eines Sohnes. Da stand ich nun als erster Türke, der sich hier je beworben hatte, dazu noch mitten im Fastenmonat Ramadan. Und dann fragte mich auch der Mann, der mich zuvor zur zweiten Runde durch die Firma aufgefordert hatte, ob ich denn Türke sei und auch faste im Ramadan. Die Frage beantwortete ich dann mit ja. Daraufhin klopfte er mir lachend auf die Schulter und sagte: „Du arme Sau“! Ich war verwirrt und wusste erst nicht, wie ich die Aussage aufnehmen sollte, da er es ja lachend zu mir gesagt hatte. Ich hatte nicht das Gefühl, in dem Moment von ihm herabgestuft zu werden oder rassistisch angegriffen worden zu sein. Dazu sollte man vielleicht allen Nicht-Saarländerinnen und -Saarländern sagen, dass wir hier gern essen, sehr gern essen. Der Mann hatte einfach Mitgefühl mit jemanden, der tagsüber nicht essen darf. Bei der direkten Zusage im Anschluss an das Vorstellungsgespräch habe ich erst begriffen, dass mir da mein zukünftiger Chef auf die Schulter geklopft hatte.

Ich nahm die Firma anfangs wie ein „Museum“ wahr, da sie nur ein bis zwei moderne Maschinen zu diesem Zeitpunkt hatte. Ab dem Jahr 2000 fing dann ein Wandel in der Firma an. Neue Maschinen und Roboter wurden angeschafft. So begann hier die Transformation der Arbeitswelt. Die Firma erlebt seitdem ein rasantes Wachstum der Firmenstruktur- und -größe: neue Maschinen, Anlagen, Hallen und mehr Personal. Heute wird uns jeden Tag mehr deutlich, dass wir kein Familienunternehmen mehr sind und der einzelne Mensch immer mehr an Bedeutung verliert. Die Leistung, die von Maschinen überwacht wird, steht über dem Menschen. In allen Abteilungen gibt es deutlich mehr Krankmeldungen. Durch das 4-Schichtsystem, welches sich wegen der Auftragslage in der Firma etwa 2010 etablierte, führte bei vielen Arbeiterinnen und Arbeitern zu mehr physischen und psychischen Belastungen. Die Wochenenden wurden nicht mehr zuhause mit der Familie verbracht, sondern auch in der Firma. Es war Pflicht zu arbeiten. Diese Situation konnte und kann ich mit der Unterstützung meiner Familie bewältigen, denn diese ist meine Energie- und Kraftquelle. Auch sie zahlt also einen Preis. Das war mal anders – und das erzählt meine zweite Geschichte.

Meine Tochter, besuchte im Jahr 2006 die zweite Klasse. Es war Weihnachtszeit und ihre Klasse hatte eine Weihnachtsfeier geplant. An diesem Tag wollte ich freihaben, aber der Tag wurde mir nicht genehmigt. Meine Tochter wollte aber unbedingt, dass ich auch dabei bin. Daraufhin rief sie mit ihren sieben Jahren die Firma an und sprach mit meinem Chef und sagte ihm, dass er mir freigeben solle für den Tag. Mein Chef kam danach zu mir, sah mich mit großen Augen an und fragte mich: „Wie hast du das geschafft? Deine Tochter hat angerufen und du bist morgen auf ihrer Weihnachtsfeier!“ Das war ein Ereignis, das mich bis heute noch positiv prägt und mich zum Lächeln bringt. Auch Kolleginnen und Kollegen haben es immer noch in Erinnerung. Da müssen wir wieder hin!